Erasmus an der Complutense

04.01.2010 - Katharina Blaß - Studentin 

Ein Auslandssemester in Madrid ist voller Überraschungen. Die größte, die ich bisher erlebt habe, war das Unileben. Ich studiere in Deutschland im Master und habe mich hier in Madrid an der Complutense für vergleichbar hohe Kurse an der Fakultät Ciencias de la Información eingeschrieben. Als ich das Gebäude im Oktober zum ersten Mal betrat, wurde mir klar, wie anders die spanischen Studenten ticken. Ohne Empörung, dafür mit viel Erstaunen, betrachtete ich die vielen rauchenden Studenten, die die Rauchverbotsschilder rigoros ignorierten und die Glut ihrer Glimmstängel lässig auf den Boden – wegen des Rauchverbots fehlen Aschenbecher – fallen ließen. Einmal sah ich ein Mädchen, die im fünften Stockwerk die Treppe hochgesprintet war, mit Kippe in der Hand, und sie kurz vor Betreten des Seminarraums einfach zur Seite wegschnippste, als Stände sie am Bahngleis und wolle schnell in den Zug einsteigen. Parallel dazu werden die rauchenden Studentengrüppchen im Gebäude immer wieder von den breiten Aufnehmern der Reinigungsfrauen auseinander getrieben, die gefühlte 50 Mal am Tag den Boden putzen, um der Asche Herr zu werden.

Um die Partystimmung dienstagsmorgens um 11 Uhr auf dem Campus noch zu erhöhen, ist Alkohol zu kleinen Preisen in der Cafetería zu haben: Die Studenten trinken Vino, Calimocho und Bier, als würden sie sich für den Karnevals-Rosenmontagszug warm trinken. Schon mittags um ein Uhr sieht es auf dem Gelände aus, als sei die Love-Parade vorbei gezogen. Betrunken im Seminar habe ich allerdings noch nie jemanden gesehen, aber manchmal wäre ich es wohl gerne gewesen: Aus Deutschland kenne ich es so, dass in den Masterkursen Texte vorausgesetzt werden, deren Inhalte dann im Seminar diskutiert und weiterentwickelt werden. Selber denken ist gefragt. Hier ist es das Gegenteil. Der Professor spricht ohne Punkt und Komma und die Studenten schreiben in ganzen Sätzen mit, was er sagt.

Sich während des Seminars Notizen zu machen à la „das guck ich zu Hause mal nach“, ist mit bekannt, hier schreibt man wie beim Diktat Wort für Wort auf, was vorne gesagt wird. Das hat zur Folge, dass die Seminarteilnehmer 90 Minuten tief über ihre Blätter gebeugt verharren und wohl eher selten auf die Idee kommen, selbst nachzudenken. Das ist auch nicht gefragt, denn einen Diskurs gibt es eh nicht. Einmal haben wir einen kleinen Film im Fach Kulturjournalismus geschaut. Auf die Frage des Professors, ob jemand eine Idee zur Interpretation hätte, meldete sich niemand der 60 Studenten und er sagte 45 Minuten vor Seminarende „Pues nada, entonces hasta manaña.“ (Also dann bis morgen.)

Für die Klausuren am Ende des Cuatrimestres wird dann der ganze Wisch auswendig gelernt und auf Verlangen „erbrochen.“ Wie sinnvoll das alles ist, kann jeder selbst für sich entscheiden. Ich wundere mich nur, dass hier jährlich mehrere Duzend fertige Journalisten auf den Markt geworfen werden, die in ihrem Studium nicht einmal kritisch und reflektiert, auf wissenschaftlicher Grundlage, über fachliche Inhalte diskutiert haben. Stattdessen höre ich auf dem 'Schulhof' Stammtischdiskussionen über Klimaschutz und katalanisches Autonomiestatut, bei denen ich den Eindruck habe, jeder wiederholt die Meinung seiner Eltern, die entweder sozialistisch oder konservativ geprägt sind. Nada más.

Ein großer Pluspunkt ist die fehlende Anwesenheitspflicht. Man fühlt sich wieder richtig als freier Student, wenn man blau machen kann, ohne ein Attest zu brauchen, wie das bei mir in Deutschland der Fall ist. Wer nur selten im Seminar war, der braucht sich auch keine Sorgen zu machen, die Monologe des Professors nicht schriftlich fixiert für die Prüfung verwenden zu können: auf www.elratotonto.info gibt es alle Apuntes (Notizen) der Fakultät vorgekaut von fleißigen Kommilitonen zum download.

Das hier ist nur ein kleiner Eindruck, den ich an meiner Fakultät gewonnen habe. Ich will nichts verallgemeinern und sicher gibt es auf beiden Seiten Beweise für das Gegenteil. Außerdem existieren verpflichtende Arbeiten, die bis zur Mitte eines Cuatrimestres abgegeben werden müssen. Das sind kleine Hausarbeiten oder Bücherzusammenfassungen, die das Hirn der Studenten wohl doch fordern. Allerdings frage ich mich, wann die das machen, so richtig im Stress ist von meinen Kommilitonen keiner...

Kommentare (8) :

Kommentar von john 06.01.2010

Kommentar von mike 06.01.2010

Kommentar von Carmen 06.01.2010

Kommentar von Melanie 06.01.2010

Kommentar von alexandra serrano 06.01.2010

Kommentar von Katharina 07.01.2010

Kommentar von stefan 08.01.2010

Kommentar von abcxyz 30.04.2010

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