Zweischneidige Erinnerung

18.04.2008 - Linda Mäding - Doktorandin im Consejo Superior de Ciencias (CSC) 

Verwundert reibe ich mir die Augen: Alle Nationen pflegen zwar ihre „Helden“, die wir selbstverständlich auf Seiten der „Guten“ verorten. Hier, vor dem Alcázar im malerischen Toledo, scheint sich die Informationstafel aber auf jene zu beziehen, die zumindest in meinem Kopf auf der anderen Seite stehen. Denn wer hier laut Touristeninformation so heroisch in Verteidigung des Vaterlandes gehandelt hat, sind die Putschisten – Francos Gefolgschaft, die sich 1936 in der Festung von Toledo verschanzt hatte und die republikanische Belagerung des Orts später zum Mythos stilisierte.

Für Deutsche ist es immer wieder erstaunlich, beim Gang durch eine spanische Stadt plötzlich auf Franco zu stoßen. Die Denkmäler sind dank des viel diskutierten Gesetzes zum historischen Gedächtnis (das offiziell ja gar nicht so plakativ heißt) fast alle abgerissen und auch die entsprechenden Straßennamen wurden zumeist geändert. Von Gran Canaria bis Santander lassen sich dennoch immer noch genügend problematische Verweise auf den „General“ finden – nicht aber auf seine Opfer: frankistische Straflager oder Verhörkammern wurde meist ohne Aufhebens umfunktioniert. 

Die Gründe liegen auf der Hand: Im Gegensatz zu Deutschland, das zum Bruch mit der eigenen Vergangenheit quasi gezwungen wurde, gab es hier keine vergleichbare Zäsur. Die Geschichte wurde von den Siegern der Geschichte geschrieben. Und der Diktator starb im Bett. Die Zeit danach begann gerade nicht bei der „Stunde Null“, sondern war ein „Übergang“ – die transición eben. Lange galt ein sicher auch hilfreicher Konsens, an den sich selbst Sozialisten wie Felipe Gonzalez hielten: Die Vergangenheit muss ruhen und an alte Wunden soll man nicht rühren.

Spanische Intellektuelle sprechen oft bewundernd vom deutschen Modell der Aufarbeitung. Auch Spanien hat in wenigen Jahren viel aufgeholt. Den ganzen Hype um das besagte Gesetz der Zapatero-Regierung einmal außer Acht gelassen: Die Fernsehserie Cuéntame "Cómo pasó" über ein Familienleben in der Franco-Zeit ist zum Hit geworden und die Buchhandlungen platzieren Romane über den Spanischen Bürgerkrieg verkaufsfördernd nah am Eingang. 

Doch hinter dem „Gedächtnisboom“ verbirgt sich auch viel heiße Luft. Historiker und Philosophen, die wie der Autor Reyes Mate über historisches Gedächtnis forschen, sagen, dass in weiten Teilen der Gesellschaft noch immer großer Unwillen darüber herrscht, sich einmal aus der Perspektive der Opfer mit der Vergangenheit auseinander zu setzen. Wie auch immer man also zu dieser neuen Debatte, die gerade zur Mode auswächst, steht: Mit dem berühmten Schlusspunkt ist es nicht mehr getan, die jahrzehntelange Amnesie ist aufgekündigt. Und das wird der Gesellschaft auf lange Sicht sicher gut tun.

Er habe die Schrecken der Vergangenheit viele Jahre vollkommen unterdrückt, schreibt der KZ-Überlebende und ehemalige spanische Kultusminister Jorge Semprún in seinem autobiographisch gefärbten Roman "Die große Reise". Mit umso größerer Wucht kehrte das Gedächtnis irgendwann zurück: Vergessen müssen, um dann erinnern zu können. Auch wenn vielerorts nur der einen Seite auf Infotafeln und Plaketten ehrend gedacht wird. Die Toten der anderen Seite lassen sich dadurch nicht ungeschehen machen. Irgendwann kehren eben auch sie ins kollektive Gedächtnis zurück. Mit oder ohne Gesetz.

Kommentare (5) :

Kommentar von Stefanie 18.04.2008

Kommentar von Carsten 18.04.2008

Kommentar von stefanie 18.04.2008

Kommentar von Ralf 20.04.2008

Kommentar von Linda 21.04.2008

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