REPORT: ¡Madrid me mata!

28.08.2008 - Uwe Niemeier 

"¡Madrid me mata! Laut ist’s. Voll. Mit wechselnd wertvollen und störenden, ja verwirrenden Einblicken. Der Lärmpegel in einigen Restaurants zwingt uns zum Anschreien am Tisch; singende Aushilfskellner schmettern Mozart und Puccini zum Hauptgang, als wär’s Blasmusik im stickigen Bierzelt; marodierende Diebesbanden lauern an Fußgängerüberwegen von Großkreuzungen; Hotelfenster müssen geschlossen sein, da der Verkehrslärm bis morgens um vier keinen Schlaf erlaubt; Taxifahrer bedröhnen sich mit stimmgewaltigen Fußballübertragungen aus dem Radio; zwei Dutzend Prostituierte werben schon nachmittags in der Fußgängerzone; das späte Essen bis Mitternacht liegt schwer im Magen. ¡Madrid me mata! Aber ich bin begeistert.“

Dieser Briefauszug und nicht ganz ernst gemeinte Hilferuf eines deutschen Madrid-Reisenden dieser Tage mag nur ein Mosaiksteinchen aus einem madrilenischen Gesamtbild sein. Doch der Mosaikstein konturiert das Bild einer Metropole mit über drei Millionen Menschen, die sich in voller Überzeugung als Weltstadt im Reigen der ganz Großen sieht.

Häuserschluchten wie in New York, lauschige Gassen wie in Paris, Plätze der Erholung wie in Rom, Lebenslust ohne Grenzen wie in Rio de Janeiro. Und der starke Verkehr. Verkehr? Nein, das ist schon ein Frontalangriff auf Nerven und Gesundheit.

¡Madrid me mata! „Madrid bringt mich um!“ Das behaupten zumindest die Einwohner ein wenig selbstironisch über ihre Stadt, die sie – natürlich – als kulturelles und gesellschaftliches Zentrum des Königreiches erleben und niemals eintauschen würden.

Denn es gibt doch soviel Schönes, Bemerkenswertes, Erinnerungswertes für Reisende: klassizistische Fassaden, barocke Monumente, Altstadtgassen mit unzähligen Tapas-Bars, quirlige Lebensfreude, freundliche Menschen (bis auf ein paar Kellner), hübsche Latinas und wenige Latinos, Sonne satt, Straßenmusiker und Figurenkünstler, viele kleine Geschäfte fürs Shopping, große Plätze mit verspielten Brunnen, Erdbeerbäume – auf denen niemals Erdbeeren wachsen, grüne Gürtel um den Stadtkern, Werke alter Meister im neuen Teil des berühmten Prado-Museums, den Herrn Cervantes nebst imaginären Windmühlen im nahen Alcalá de Henares mit der zweitältesten Universität Europas.

Was soll der Reisende da geordnet unternehmen, in welches Abenteuer stürzt er sich zuerst? Der Tipp: zuerst ein Café. Um zur Ruhe zu kommen, zu schauen, zu verstehen. Die beliebtesten Ausgehviertel sind die Altstadtgassen um die Plaza Santa Ana und die Calle Huertas nahe der Purta del Sol.

Auch die Plaza Mayor ist trotz zahlreicher Touristen ein Muss mit ihren teils deftig-barocken Malereien. Nach einer Studie der Sitten und Gebräuche beim Bestellen, Zahlen, Platz verteidigen und im Umgang mit gestressten Kellnern und aufdringlichen Straßenmusikanten führt der Weg von der Plaza Mayor östlich durch das Gassengewirr – bis man unweigerlich auf die vielbefahrene, durch Bäume und Cafés getrennte Doppelstraße Paseo del Prado stößt. Hier wartet der Prado. Der Prado.

Madrid ist ein Eldorado für Kunstliebhaber, der Prado seit Jahrhunderten ein Museum mit Weltruf. Meisterwerke von El Greco über Velázquez bis zu Goya warten dort auf die Besucher. Das Thyssen-Bornemisza-Museum hält mit Cézanne, van Gogh oder Warhol dagegen. Und im Kunstzentrum Reina Sofia gehört Picassos „Guernica“ zu den Höhepunkten – neben herausragenden Dali- und Miró-Sammlungen. Kunstherz, was willst du mehr?

Also besser etwas mehr Zeit einplanen. Und anschließend hungrig die Tapas-Szene erobern. Löcher im Magen werden gefüllt mit leckeren und teils teuren „Kleinigkeiten“ wie Tintenfisch (Pulpo), Salamiwurst (Chorizo), frittierten Kartoffeln (Patatas bravas), Oliven, Gambas, überhaupt Meeresgetier und mehr. Faustregel: je fettiger, desto leckerer. Nicht lange zögern, sondern einfach probieren. Aus und auf der Hand, im Stehen. Und was nicht gegessen wird, kommt auf den Boden oder in den Eimer. Muy bien, gracias. Und buenas noches.

Die Nacht beginnt. Das Leben erwacht. Zu Abend gegessen wird nicht vor 22 Uhr; vor Mitternacht geht niemand ernsthaft in eine Disco oder Szene-Bar. Herausgeputzte Vorstadt-Mädchen verlassen in Scharen gegen 23 Uhr die Linienbusse aus Richtung der wenig ansehnlichen Wohnburgen der Hauptstadt-Peripherie. Sie glucksen, scherzen, pubertieren und flirten mit ihren männlichen Altersgenossen in trendigen Trainigshosen und engen Muskelshirts. Mode ist eben relativ. Auch in Madrid.

Gebetsmühlenartig wird in Reiseführern von den modebewussten Madrilenen berichtet, die auf Eleganz und Chic so viel Wert legen. Doch das Straßenbild erfüllt dieses Bild weitgehend nicht. Und nur in besseren Restaurants ist ein gepflegtes Äußeres wirklich wichtig – will der Besucher ernst genommen und mit Respekt behandelt werden. Essen indes ist ein Genuss, ein Ereignis bei der richtigen Wahl der sehr unterschiedlichen Küchen. Den Restaurant-Besuch sollte der Reisende bereits bei der Urlaubsplanung vorbereiten oder eine Empfehlung an der Hotelrezeption einholen.

Nach einem guten Essen und dem artigen „la cuenta por favor“ geht es hinaus auf die Straße. Es ist 0.30 Uhr. Noch immer tobt der Verkehr, preschen Taxen durch enge Autogassen, heulen Sirenen der Bomberos (Feuerwehr) und Policía Municipal (Stadtpolizei). Madrid – eine Stadt in ständiger Bewegung. Faszinierend, aber immer auch ein wenig anstrengend.

Und doch haben es die Madrilenen schwer im Vergleich mit anderen europäischen Kulturmetropolen wie Rom, Paris, Mailand, Florenz oder Neapel. Da fehlen die historischen Bauten aus der Antike und dem Mittelalter – denn Spaniens Blütezeit, die Goldenen Jahre, kamen erst spät im Vergleich zu Italien und Frankreich. Auch fehlt die Leichtigkeit des Seins italienischer oder französischer Caféhaus- und Platzbesucher. Es fehlt das Singsang der Sprache in den Gassen, denn Spanisch klingt in etwa so hart wie das Deutsche. Und doch kommt der Reisende begeistert aus der spanischen Königsstadt zurück.

Und was fehlte unserem deutschen Reisenden in Madrid? In seinem Brief heißt es süffisant: „ . . . nicht eine Kakerlake traute sich bislang in meinen Tretkreis!“ Dieser Mann hat Glück gehabt. Es kann nämlich auch ganz anders kommen. Und dann heißt es wieder: ¡Madrid me mata!

erschienen im Darmstädter Echo

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